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25. April 1945: Von Dachau Mühldorf nach Poing und Seeshaupt

Nach Kriegsende zwang die US-Armee die deutsche Bevölkerung, die Leichen der KZ-Häftlinge zu begraben.
Nach Kriegsende zwang die US-Armee die deutsche Bevölkerung, die Leichen der KZ-Häftlinge zu begraben.
 
Zivilisten beim Bestatten der Toten.
Zivilisten beim Bestatten der Toten.
 
Gedenkstele
Gedenkstele 

„Die sich noch bewegen konnten.“

Das Konzentrationslager Mühldorf war ein kleines Außenlager von Dachau. Kurz vor Ende des Krieges befanden sich dort etwas mehr als fünftausend Häftlinge, die meisten von ihnen waren ungarische Juden und zuvor in Auschwitz inhaftiert gewesen.

Am 25. April 1945 wurden 3 600 Häftlinge in einen Zug verladen, eine vertraute Situation für viele von ihnen:

„Wir marschierten zu den inzwischen wohlbekannten Viehwaggons. Es war alles wie üblich, Stroh, Enge, schlechte Luft. Wieder erhielten wir eine Tagesration Brot, wieder wurden wir in die Viehwaggons gepfercht, wieder wurden die Türen zugeschlagen, und wieder begann der Alptraum einer Reise ins Ungewisse. Dieser Transport war unter den vielen, die ich überstanden habe, wohl einer der Schlimmsten. Einige tausend Männer und Frauen waren getrennt in die Züge gestopft worden, so viele nur hineingingen. Wir waren wie die Sardinen in einer Konservendose, ohne Luft, ohne Wasser und ohne Nahrung.“

Dieses Zitat stammt von dem ehemaligen Häftling Jacob Bresler. Schüler des Franz-Marc-Gymnasiums  haben es gefunden und für eine Ausstellung über den Todeszug von Mühldorf nach Tutzing verwendet, die in ihrer Schule gezeigt wird. Jede Station des Todeszuges ist dort genau dargestellt, und diese waren nicht wenige. Immer wieder hielt der Zug für längere Zeit an. Für die Häftlinge war es nicht nachzuvollziehen, warum es nicht weiterging, warum alles so langsam voranging. Nach zwei Tagen erreichte der Zug schließlich Poing. Da hatte er eine Strecke von gerade einmal sechzig Kilometern zurückgelegt.

In Poing geschah etwas Unerwartetes. Die Wachmannschaften erhielten die Nachricht, der Krieg sei vorbei. Es war eine Falschmeldung, die wahrscheinlich von der Freiheitsaktion Bayern verbreitet worden war.
„Auf einmal hieß es, dass der Krieg  zu Ende sei und dass wir frei wären. Ich habe gesehen, dass einige der Wachmannschaften ihre Gewehre wegwarfen und davonliefen. Daraufhin machte sich auch ein Teil der Häftlinge selbstständig. Sie liefen vom Zug weg, wahllos nach allen Richtungen“, so der ehemalige Häftling Baer.
Nach und nach verließen die Häftlinge den Zug. Zuerst brachen sie den Lebensmittelwaggon auf. Dann suchten sie ihr Heil in der Flucht. Einige konnten sich bei Bewohnern der Umgebung bis zum tatsächlichen Kriegsende verstecken. Inzwischen aber war klar geworden, dass der Krieg keineswegs zu Ende war. Sowohl eine SS- wie auch eine Luftwaffeneinheit machten sich mit Zivilisten aus dem Ort auf den Weg, um die verstreuten Häftlinge wieder einzufangen. Dann kam es zu dem Ereignis, das als „Massaker von Poing“ in die Geschichte eingegangen ist: Die Soldaten trieben die Häftlinge mit Schüssen in den Zug zurück.  Fünfzig wurden erschossen, mindestens zweihundert verletzt.

„Mit aufgepflanztem Gewehr trieben sie uns gruppenweise zusammen und jagten uns zu unseren Waggons zurück. Auf dem ganzen Weg vom Dorf Poing bis zum Bahnhof lagen unsere toten und verwundeten Kameraden, die bei dieser Hetzjagd auf der Strecke geblieben waren“, erinnert sich ein Zeuge.

Die SS zwang  die Häftlinge, ihre toten Kameraden in den Zug zu werden. Nach einer Stunde waren alle wieder zurück in den Waggons, nur wenige konnten fliehen. Der Zug fuhr weiter in Richtung München. Dort wurde er wegen seiner Länge geteilt und beide Zugteile schlugen verschiedene Richtungen ein. Immer wieder kam es zu Tieffliegerangriffen. Während eines solchen Angriffs in der Nähe des Klosters Beuerberg wagte ein Teil der Häftlinge einen Fluchtversuch. Viele der Flüchtenden wurden von der SS erschossen.

In beiden Zügen befinden sich Verletzte des Massakers von Poing. Natürlich gewährt ihnen die SS-Bewachung keine medizinische Versorgung, so dass viele ihren Verletzungen erliegen.

Schließlich die Befreiung am 20. April 1945, für die einen in Seeshaupt, für die anderen in Tutzing: „Wir hörten ein grollendes Geräusch, wussten aber nicht, woher es kam oder was es bedeuten könnte. Dann hörten wir ein Schreien: „Amerikaner, Amerikaner! Alle, die sich noch irgendwie bewegen konnten, taumelten an die frische Luft, in eine sonnige Welt mit Wiesen und Bäumen. Den amerikanischen Soldaten bot sich ein entsetzliches Bild. Hunderte menschlicher Wracks krochen auf sie zu, um die Ketten und  Spuren ihrer Panzer zu küssen oder zu berühren. Die Soldaten trauten ihren Augen nicht, sie konnten sich nicht vorstellen, woher wir kamen und welche Gefühle in uns aufwallten.“ Auch dieses Zitat haben die Schüler in den Aussagen Jacob Breslers gefunden.
In Seeshaupt  zwingen die amerikanischen Soldaten die Einwohner zum Bahnhof zu kommen. Sie sollen mit eigenen Augen sehen, welche Verbrechen an den Häftlingen begangen worden sind. Denn die Menschen, die aus den Waggons geladen werden, befinden sich in einem schrecklichen Zustand. Viele von ihnen sterben noch kurz nach der Befreiung.

Die Schüler des Franz-Marc-Gymnasiums haben all diese Aussagen zusammengetragen. Sie haben in  Archiven nach Dokumenten geforscht, Prozessakten durchgearbeitet, Zeitzeugen gesucht und. mit  Überlebenden des Todeszuges gesprochen. Schwieriger war es, Einheimische zu finden, die sich erinnern wollten. Erst jetzt nach der Ausstellungseröffnung haben sich Zeugen brieflich gemeldet, die damals selbst noch Kinder oder Jugendliche waren und geschockt von dem, was sie dort erleben mussten. Aber sie waren ja nicht verantwortlich.

Die Schüler haben ihre Arbeit als  große Bereicherung erlebt. Ihr Engagement ging weiter über das hinaus, was in der Schule sonst gefordert wird:„Ich lebe schon mein ganzes Leben in Markt Schwaben“, so Lisa Brandt, „und hatte dennoch bis vor etwa einem Jahr nie etwas von einem Massaker in Poing gehört. Am interessantesten war für mich die Arbeit mit den Zeitzeugen. Was diese heute alten Menschen damals über sich ergehen lassen mussten, wie die Erlebnisse ihr Leben geprägt haben, hat mich tief bewegt.“

Es ist nicht das erste Projekt dieser Art am Franz-Marc-Gymnasium. Der Lehrer Heinrich Mayer hat mit seinen Schülern in mehreren Projekten „Vergessene Helden“ gesucht und auch schon zwei Ausstellungen  zu den Ereignissen in Poing erstellt.

Die jetzige Ausstellung hat nun besonderen Erfolg: Das Medienecho war groß, der Bürgermeister von Seeshaupt will sie als Dauerausstellung erwerben. Viele Schulen wollen sie zeigen.  Und die Schüler wollen weitermachen. Sie wollen im nächsten Schuljahr die neuen Erkenntnisse vertiefen, auch mit Hilfe der neuen Zeugen. Außerdem planen sie, an das alte Projekt „Vergessene Helden“ anzuknüpfen. Sie wollen der Freiheitsaktion Bayern nachspüren, die für die Falschmeldung vom Ende des Krieges in Poing verantwortlich gewesen sein soll. Wer war das?