Traurig und voller Dankbarkeit verabschiedet sich das Internationale Auschwitz Komitee von seiner ehemaligen holländischen Vizepräsidentin Carry van Lakerveld, die im Alter von 83 Jahren in Amsterdam gestorben ist.
Ihrer kreativen Prägnanz, ihrer Menschlichkeit und ihrem konstruktiven Drängen hat das IAK viel zu verdanken: Carry van Lakerveld, Historikerin und langjährige Vizedirektorin des Historischen Museums der Stadt Amsterdam, lag besonders die Begegnung zwischen Überlebenden der Shoah und jungen Menschen am Herzen:
Die von ihr entwickelte und kuratierte Ausstellung "Afterwards its just a part of you" führte Jugendliche aus ganz Europa zusammen, die über ihre Eindrücke und Erfahrungen in der Gedenkstätte Auschwitz-Birkenau und ihre Gespräche mit Überlebenden des Lagers berichteten. Die Ausstellung -von dem holländischen Bambus-Künstler Anton Versteegde gestaltet- wurde in den Jahren 2000 bis 2005 mit großem Erfolg im Europäischen Parlament in Brüssel, im Willy Brandt Haus in Berlin und im Gebäude der Vereinten Nationen in New York präsentiert, wo sie Generalsekretär Kofi Annan gemeinsam mit seiner Frau Nane eröffnete.
Carry van Lakerveld war vielen holländischen Überlebenden der Shoah eng verbunden: Aus dieser Verbundenheit heraus entstand auch die beeindruckende Ausstellung "Überleben im Leben", die dem künstlerischen und literarischen Wirken der Auschwitz-Überlebenden Ronnie Goldstein-von Cleef gewidmet war und 2007 in der Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin gezeigt wurde. Der von Carry van Lakerveld vorgelegte Ausstellungskatalog zu Ronnie Goldstein-van Cleef bleibt als Ausdruck ihrer künstlerischen und politischen Engagements.
Gemeinsam mit Max Arian hat Carry van Lakerveld im Internationalen Auschwitz Komitee über viele Jahre das Niederländische Auschwitz Komitee vertreten und die Verbindungen zum Anne Frank Haus in Amsterdam entwickelt.
Rede von Max Arian zum Gedenken an Carry van Lakerveld 11. September 1938 - 7. Dezember 2021
Vielleicht hat unsere Generation in ihrer Jugend, in den 1960er und 1970er Jahren, zu viel über die Zukunft gesprochen. In den 1980er Jahren jedoch holte uns die Vergangenheit ein: Unsere eigene Vergangenheit, der Zweite Weltkrieg. Eine kleine, zierliche, ältere Dame, Annetje Fels-Kupferschmidt, konfrontierte uns auf sehr freundliche Weise mit dieser Tatsache. Sie rief eine Reihe von Leuten zusammen, die sie mochte, darunter Carry und mich. Wir trafen uns an verschiedenen Orten: im Amtssitz des Bürgermeisters Ed. van Thijn, bei mir in der Reaktion von "De Groene Amsterdamer" und noch angenehmer: Zu Hause bei Bertje Leuw und Herbert Sarfatij.
Annetje war die hochgeschätzte und beliebte Vorsitzende des niederländischen Auschwitz-Komitees und sie war eine der wenigen oder vielleicht die einzige, die sah, dass diese Lagerkomitees , die direkt nach dem Krieg von Überlebenden gegründet worden waren, in eine Sackgasse gerieten. Die Mitglieder, ursprünglich nur ehemalige Häftlinge, wurden immer älter, bald würde es kein Auschwitz-Komitee in den Niederlanden mehr geben. Und deshalb versammelte Annetje eine Reihe junger Leute um sich. "Junge Leute",nun gut, wir waren damals, glaube ich, alle um die fünfzig Jahre alt, aber immer noch eine ganze Generation jünger als die Komiteemitglieder. Die meisten von uns waren Juden, aber auch Carry gehörte selbstverständlich dazu, zumindest nannte sie sich „angejiddelt“.
Man nannte sich bescheiden "Die Unterstützungsgruppe" -"De Steungroup" , aber wir waren durchaus militant und auch sozial interessiert. Dies war auf jeden Fall bei Carry der Fall, die im Amsterdamer Historischen Museum gemeinsam mit Jeroen de Vries und anderen gezeigt hatte, dass sie markante, politisch interessante Originalausstellungen auf die Beine stellen konnte, die ihrer Zeit weit voraus waren, zum Beispiel „Arm in de Gouden Eeuw“ (Arm im Goldenen Zeitalter), „Allemaal Amsterdammers“ (Es sind alle Amsterdamer) „De Februaristaking" (Der Februarstreik) und „Nederland tegen Apartheid" (Die Niederlande gegen die Apartheid).
Außerdem hatten sie und ihr Mann Maurits Herben eine noch engagiertere Galerie "De Tor" -"Der Käfer" in der Czaar Peterstraat gegründet, in der sie mit unzähligen Künstlern und zu unzähligen Themen Ausstellungen präsentierte: Über die umstrittene Volkszählung 1970, über Sinti und Roma, über De Groene Amsterdammer, über Chile nach dem Putsch, über den Kampf gegen die Apartheid in Südafrika, über den Spanischen Bürgerkrieg, mit vielen Zeichnungen von Opland und Fotos von Pieter Boersma. Es waren aktuelle, kämpferische, witzige und zugängliche Ausstellungen.
Aber das war zu diesem Zeitpunkt schon die Vergangenheit der Zukunft. Die Czaar Peterstraat wurde größtenteils abgerissen, die Galerie "De Tor" geschlossen, Carry selbst war innerhalb Amsterdams nach Wittenburg umgezogen. Mit Maurits, Richard und ihrer Tochter Mirjam.
Die erfahrene Carry war eine große Bereicherung für das Auschwitz-Komitee. Das konnte ich hautnah miterleben, denn gemeinsam wurden wir die niederländische Vertretung im Internationalen Auschwitz-Komitee, eine der ersten Aufgaben, die wir von Annetje übernommen hatten. Gemeinsam sind wir durch ganz Europa gefahren, natürlich in Carrys Auto. Das einzige Mal, als ich fuhr, verirrten wir uns und kamen fast zu spät zu einer Beerdigung.
Aber in Carrys Auto flogen wir von Berlin nach Wien, von Brüssel nach Auschwitz, von Rom nach Frankfurt. Es war faszinierend, bewegend, anregend, diese alten, aber sehr netten Lagerüberlebenden zu treffen. Carry war mit ihren phänomenalen Sprachkenntnissen natürlich eine wichtige Persönlichkeit, sie wurde auch Vizepräsidentin des Internationalen Auschwitz Komitees und sie hatte viele Ideen, vor allem für Ausstellungen.
Carry war die richtige Frau, um den holländischen Pavillon in der Gedenkstätte Auschwitz, der inhaltlich etwas abgestumpft und veraltet war, zu erneuern . Zusammen mit Designer Victor Levie führte dies zu einem wunderbaren Ergebnis, das sie selbst am Ende leider nicht mehr erleben konnte. Dieser Pavillon enthielt auch eine Wand mit den Namen der niederländischen Opfer, die in Auschwitz ermordet worden waren. Als Jacques Grishaver, der Vorsitzende des niederländischen Auschwitz-Komitees, sah, wie sehr die Namenswand den Bedürfnissen vieler Menschen entsprach – die Namen aus nächster Nähe zu betrachten, zu fotografieren, zu berühren – kam ihm die Idee für das neue Nationale Denkmal der Namen, das vor zwei Monaten in der Amsterdamer Weesperstraat eröffnet werden konnte.
Bertje Leuw und ich besuchten Carry, in Muiden, in dem Pflegeheim, in dem sie inzwischen wohnte, um ihr davon zu erzählen. Sie hat uns sehr freundlich aufgenommen, uns aber kaum wiedererkannt. Sie war noch dünner und kleiner geworden als sie es immer schon gewesen war und sie konnte kaum noch laufen. Wir konnten ihr nicht einmal von der neuen Namenswand erzählen, geschweige denn, ihr die Anerkennung zu geben, die ihr dafür indirekt zusteht. Nun, hoffentlich ist mir das jetzt ein bisschen gelungen.
Max Arian
(aus dem Niederländischen übersetzt von Leen van Amsterdam)