70. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz | Gedenkveranstaltung des IAK am 26.1.2015, Urania, Berlin
Rede des israelischen Pädagogen Joshua Weiner
Schalom.
Mehrere Tausende Israelis leben heute in Berlin; jeder und jede von ihnen mit einer eigenen Geschichte. Ich möchte nicht vorgeben für irgendjemand anderen als für mich selbst zu sprechen. Aber vielleicht gibt es etwas, was allen Israelis hier gemeinsam ist. Es ist die Herausforderung, vor die Berlin uns stellt: zwei Bilder gleichzeitig in unser Bewusstsein zu haben, eines von der Vergangenheit, und eines von der Gegenwart, und zu lernen mit diesen beiden Vorstellungen der Stadt zu leben, ohne eine von ihnen aufzugeben. Es macht das Leben hier reich und komplex, aber es ist eine Herausforderung.
Für mich ist das Bild der Vergangenheit von den Erinnerungen meiner Großeltern und ihren Geschichten gefärbt. Meine Großmutter, Friedel Sturm, wurde mit den Kindertransport von München nach England geschickt und dort als Flüchtling aufgenommen. Mein Großvater, Moshe Tiefenbrunner, wurde 1915 in Wiesbaden in eine Familie polnischer Juden geboren. Er floh nach Palästina, diente dort in der Britischen Armee und gründete schließlich in Jerusalem eine Familie. Er ließ in Wiesbaden seine Eltern und fünf Geschwister zurück. Sie wurden nach Krakau deportiert und später nach Auschwitz. Im Jahr 1942 wurden sie dort umgebracht. Ich weiß nichts über sie - außer ihren Namen. Sie sind ein schwarzes Loch in unserer kollektiven Familienerinnerung. Jedes Mal, wenn ich meine Familie sehe, mit Dutzenden von Enkeln und Großenkeln, denke ich an die Zukunft, die den fünf Geschwistern meines Großvaters weggenommen wurde, an die Familien, die sie nie hatten.
Mein Großvater würde mir sagen: Sei immer ein Mensch. Mensch hat im Jiddischen eine andere Bedeutung als im Deutschen: Es bedeutet nicht nur „Mensch,“ sondern „sei ein guter Mensch,“ ein Mensch, der aufsteht und das Richtige tut. Ich hatte nie erwartet ein Repräsentant Israels in Berlin zu sein, aber ich finde mich selbst sehr oft in Situationen wieder, in denen ich genau das bin: in Gesprächen mit deutschen Freunden und Freundinnen, bei meiner Arbeit in einem Jüdischen Kindergarten oder meinem Ehrenamt mit Jugendlichen aus der ganzen Welt in Neukölln. Und auch hier, heute, bin ich es. Ich versuche mich daran zu erinnern, was mein Großvater mir über das Menschsein erzählt hat. Ich denke, dass er und seine Geschwister von mir erwartet hätten, aufzustehen, und ein stolzer Jude zu sein, ein stolzer Israeli, aber vor allem ein Mensch zu sein, der die Verantwortung der Erinnerung an die Vergangenheit trägt, und ganz in der Gegenwart lebt.
Ich bin geehrt heute hier zu sein, und danke Ihnen.