Wolfsburg/Berlin/Sylt – Das Internationale Auschwitz Komitee (IAK) warnt eindringlich vor einem Relativieren der jüngsten Vorfälle rund um die rassistischen Gesänge junger Partygäste hierzulande. Christoph Heubner, der geschäftsführende Vizepräsident des IAK, sagte im Interview mit der VW-Betriebsratszeitung MITBESTIMMEN!:
„Wenn Menschen die Hand hochreißen und Hitler-Bärtchen andeuten mit der anderen Hand, dann haben sie das Wort Gaskammer, dann haben sie das Wort Kindererschießung, dann haben sie das Wort Hetzjagd, dann haben Sie das Wort Pogrome immer mit ausgesprochen! Es gibt an diesem Punkt keine Witze.“
Das Dorf Kampen auf Sylt ist ein Ort der Superlative. Der dortige Hoboken-Weg gilt als teuerste Adresse Deutschlands. 40.000 Euro kann eine Immobilie da kosten – pro Quadratmeter. Das im Ortskern gelegene „Pony“ nennt sich mit seinen gut 60 Jahren Geschichte ältester Partyclub der Republik. 150 Euro kostet der Eintritt dort schon mal. Seit kurzem ist das reiche Kampen um einen traurigen Superlativ reicher: Im „Pony“ johlte an Pfingsten eine Gruppe junger Menschen „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ zur Melodie eines Party-Hits. Einer der Beteiligten ahmte offenbar den Hitler-Gruß nach, deutete mit zwei Fingern unter der Nase ein Hitler-Bärtchen an. Ein Video-Schnipsel der Szene ging online. Seither fegt ein Sturm der Entrüstung über Kampen. Bis hin zum Bundeskanzler und Bundespräsidenten reichten die angewiderten Reaktionen.
In der Folge trat noch mehr zutage: Einen Steinwurf entfernt vom „Pony“, im Club „Rotes Kliff“, spielte sich eine ähnliche Szene ab, ebenfalls an Pfingsten. Und die Straße runter Richtung Strand, nahe dem Restaurant „Sturmhaube“, wurde eine junge dunkelhäutige Frau mit dem N-Wort rassistisch beleidigt und danach auch körperlich attackiert, alles ebenfalls an Pfingsten. Die Polizei ermittelt zu allen drei Hergängen.
Was hat das alles nun mit Volkswagen zu tun? Eine Menge.
Das Unternehmen setzt sich seit Jahrzehnten dafür ein, dass genau solche Szenen nicht passieren, weil es die Menschen besser wissen. Und dafür, dass Zivilcourage solche Vorgänge eindämmt, falls sie doch geschehen. Für die Überlebenden des Vernichtungslagers Auschwitz, die über unsere Projekte mit dem Internationalen Auschwitz Komitee (IAK) insbesondere zu den VW-Auszubildenden engen Kontakt halten, sind die Nachrichten aus Kampen auf ganz besondere Weise schmerzhaft. Sie empfinden die Grölereien aus Kampen als Hetzjagd. Und sie fühlen sich beraubt um ihr Lebenswerk im Einsatz für Erinnerung und Verantwortung. Das berichtet Christoph Heubner, der geschäftsführende Vizepräsident des IAK.
Im Interview mit der Betriebsratszeitung MITBESTIMMEN! äußert sich Herr Heubner auch zur Verhältnismäßigkeit der Arbeitsplatzverluste, die einige der mutmaßlich Beteiligten aus Kampen bereits erfahren haben. Er ordnet ein, wie glaubwürdig Reue nach rassistischen Parolen sein kann und ob denjenigen, die Neonazi-Slogans grölen, ein Besuch in Auschwitz noch helfen könnte.
Herr Heubner, Deutschland empört sich über offensichtlich mächtig privilegierte junge Menschen, die in einem Nobelschuppen auf Sylt „Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!“ grölen und aus der Menge neben sich keinen Widerstand ernten. Was dachten Sie, als Sie das Video sahen?
Christoph Heubner:
„Meine ersten Gedanken waren Abscheu und Traurigkeit. Traurigkeit, wie es sein kann, dass Menschen, die doch so wohlbehütet und materiell offensichtlich so gut ausgestattet aufgewachsen sind, in ihren Herzen so verlottern können. So sehr, dass sie gar nicht wahrnehmen, was sie eigentlich sagen und wie das für andere Menschen verletzend sein muss. Auch demütigend und ausgrenzend. Dass sie nicht mal irgendwann in ihrer eigenen Existenz realisiert haben, wie sehr sie Teil einer Gesellschaft sind, in der Menschen vieler verschiedener Herkünfte miteinander leben, miteinander arbeiten, Dinge vorwärts bringen. Und dass es in ihrem Leben offensichtlich so etwas wie eine geschmacksfreie Zone gibt, in der man sich versammeln kann und in der ein paar Gläser Alkohol genügen, dass die Sau rauskommt. Und wie dünn unter der Oberfläche der Wohlanständigkeit und der Erziehung diese Sau lauert: Das ist das Bedrückende und das Desillusionierende daran.“
Zumindest einer der Beteiligten hat inzwischen zu Protokoll gegeben, er sei betrunken gewesen und der Alkohol habe aus ihm gesprochen – eigentlich sei er gar nicht so, seine Werte seien andere und dementsprechend müsste das gesehen werden. Es täte ihm leid. Wie ernst ist das zu nehmen?
Christoph Heubner:
„Ich will mir die Antwort nicht leicht machen. Ich würde es gerne ernst nehmen wollen, dass so jemanden plötzlicher ein heilsamer Schock ergriffen hat. Dass derjenige wirklich gesagt hat: `Was passiert mit dir?´ Wissen Sie: Ich hab vor vielen Jahren von einem Freund so eine Art Erlebnis geschildert bekommen. Dass er im Porsche durch die Landschaft juckelt als erfolgreicher Industrie-Architekt, der wahnsinnig viel Geld verdient und dem plötzlich auf einer langen Autobahnfahrt mit hoher Geschwindigkeit seine Jugend einfällt, wo er auf einer Napola-Schule der Nazis war. Und quasi als zukünftige Führungselite erzogen wurde. Und ihm plötzlich dieser Gedanke in den Kopf schießt: `Wo wärst du heute, wenn die den Krieg gewonnen hätten?´. Und er in dem Moment begreift: Du bist deinem Leben noch etwas schuldig, dem Kriegsende und deiner neuen Chance, in deinem Leben ganz etwas Anderes zu machen. Und ich hoffe sehr, dass dieser junge Mann solch einen Schock gehabt hat und dass der ihn wirklich einfach seine Augen weiten lässt. Denn das bedrückt mich daran besonders: Wenn Menschen die Hand hochreißen und Hitler-Bärtchen andeuten mit der anderen Hand, dann haben sie das Wort Gaskammer, dann haben sie das Wort Kindererschießung, dann haben sie das Wort Hetzjagd, dann haben Sie das Wort Pogrome immer mit ausgesprochen! Es gibt an diesem Punkt keine Witze. Und auch der Alkohol entschuldigt diese Witze dann nicht, er erklärt sie vielleicht: die Zügellosigkeit und die Dummheit, die entsteht. Aber er entschuldigt sie nicht.“
Wir alle kennen das Bild vom Neonazi mit Glatze, Tattoos, Bomberjacke, Springerstiefeln und Baseballschläger – oft verortet im Osten Deutschlands, vielleicht am besten noch im Plattenbau. Auf der anderen Seite kennen wir aber auch die Faschisten wie Herrn Höcke, die die ganze braune Weltsicht längst in politisches Programm gegossen haben als Nazis in Nadelstreifen. Wenn wir jetzt diesen wohlstandsverwahrlosten Nachwuchs auf Sylt sehen – in welche Kategorie fällt der dann?
Christoph Heubner:
„Wir wissen aus der Geschichte, dass es auch in der Bewegung der Nazis – in der frühen Bewegung und dann auch viel später noch mehr, als es opportunistischer wurde – dass es da diesen Dünkel gegeben hat aus Adelskreisen, aus sehr gehobenen, bürgerlichen Kreisen, sehr wohlhabend industriellen Kreisen, die ideologisch den Nazis nah waren im Blick auf eine Herrschaft der Rasse und ihrer eigenen Schicht. Und aufgrund der Überzeugung, dass sie diejenigen seien, die die Welt am besten erklären, am besten beherrschen, am besten aufteilen und die Welt am besten vom menschlichen Schmutz würden befreien können. Und wir sind jetzt mit dieser Frage in ganz aktuellen Zusammenhängen: Die AfD hat die Tür weit geöffnet zu diesen Springerstiefel-Nazis, die nicht rechtsextrem sind, sondern Hardcore-Nazis. Und da kann einen nur wirklich die Empörung packen, wie leichtfertig sich unsere Gesellschaft diesen Gestalten ausliefert. Ich habe mir beispielsweise angeguckt diesen Vogel, der in Thüringen jetzt Zweitplatzierter ist für die Landratswahl in Hildburghausen. Der in Kloster Veßra dieses Nazi-Restaurant führt. Dieser Vollpfosten hat auf seiner Webseite stehen: `Anerkannter Ausbildungsbetrieb der Industrie- und Handelskammer´. Jetzt frage ich ernsthaft: Hat er das da nur stehen? Haben sie ihm das längst aberkannt? Darf der wirklich junge Leute bei sich zu jungen Nazis ausbilden? Kriegt er dafür womöglich noch staatliche Subventionen? Dass dieser Typ ein ganz schäbiger Lump ist, der wirklich den Schotter auch noch annimmt für seine Gerichte, die 8,88 Euro kosten [Anmerkung der Redaktion: 88 steht als Neonazi-Code unter Anspielung auf den achten Buchstaben des ABC für „Heil Hitler“] . Diese Leute hat die AfD in einem gewissen Sinne domestiziert, indem sie auf der anderen Seite ihrer Existenz den Anschluss ermöglicht hat an eine bürgerliche Mitte von Leuten, die eben in Nadelstreifen daherkommen, aber im Kopf die Springerstiefel genauso parat haben. Und deren Münder eigentlich Baseballschläger sind. Und deswegen ist diese Debatte um das Verbot der AfD eine so unendlich provozierende Debatte, weil sie endlich mal zu Potte kommen muss, anstatt uns immer jedes Mal ritualisiert zu sagen: `Das ist ganz schwierig und das muss man sehr genau prüfen …´. Dabei haben die Verfassungsschutzämter so detaillierte Kenntnisse über das, was in dieser Partei und ihren Gruppierungen vor sich geht und machen sich doch keine Illusionen mehr über die Realität des Prozesses der letzten Jahre. Und an dem Punkt: Offensichtlich bricht da nun Sylt hervor, brechen die Schützenfeste hervor. Und da geschieht das, was mir Petra Pau als Bundestagsvizepräsidentin schon vor Monaten gesagt hat: Seitdem die AfD im Bundestag die Grenze des Sagbaren und wie man es sagt verschoben hat, ist vieles in diesem Lande sagbar und wirklich geworden, was vorher gesellschaftlich sanktioniert wurde, wo man die Klappe gehalten hat und wo man sich selber gezügelt und gewusst hat: Hier kommst du nicht weiter, hier eckst du an. Aber diese Barriere ist augenscheinlich wirklich gefallen. Und ich wünschte mir, dass all denen, die in diesen Tagen zu Recht die Größe und die weitreichende Welt des Grundgesetzes beschreiben, sich klarmachen, wie bedroht die Demokratie im Moment ist.“
Welche Reaktionen hören Sie von den Auschwitz-Überlebenden, wenn die die Debatte um diese Berichte mitbekommen?
Christoph Heubner:
„Niemand sagt in den letzten Monaten und Jahren seines Lebens gerne: Das, was ich Jahrzehnte gemacht habe an Aufklärungsarbeit, nämlich meine persönlichen Schrunden, Wunden und Elendigkeiten im Verlust meiner Liebsten öffentlich zur Schau zu stellen – nicht theatralisch, sondern darüber zu sprechen, sie zu Wörtern werden zu lassen – niemand von denen sagt sich am Ende seines Lebens gerne: `Augenscheinlich hat’s nicht viel gebracht.´ Die Überlebenden haben vielfach Angst um ihre Enkelkinder. Die sind unglücklich über die Situationen in Israel, in Gaza. Nie im Leben haben die, die nach Israel gegangen sind, Konflikte mit palästinensischen Menschen haben wollen. Die hatten genau dasselbe Recht, dort in Frieden zu leben, wie sie auch. Und das war ihr Traum. Ein Traum von Frieden. Und diese ganze Welt aktuell schmerzt, in der sie hin und her geschüttelt werden, auf der einen Seite von diesen rechtsextremen Ekeligkeiten und auf der anderen Seite von dieser Verachtung des europäischen Gedankens. All das ist für die Überlebenden im Moment schwer zu sehen. Und umso unglaublicher ist es, dass sie sich noch so oft zu Wort melden, noch mal Zeugnis ablegen. Wenn man sich zum Beispiel Frau Friedländer in Berlin ansieht: Sie lässt keine Gelegenheit aus, wo sie gefragt wird, mit ihren über 100 Jahren etwas zu sagen. Und sie sagt es in klaren, eindeutigen Worten. Wenn man diese kleine zarte Frau sieht, ist sie so etwas wie eine Ur-Figur des Menschlichen. Und wir lernen es nicht zu verstehen, was sie sagt mit gutem Hintergrund und als Wissende, nicht als verbitterte Anklagende, sondern als Wissende und Bittende.“
Stellt sich die Frage nach den Konsequenzen: Wie ist mit solchen Vorfällen umzugehen, auch aus dem Umfeld, zum Beispiel aus dem Umfeld der Arbeitgeber? Es gibt erste Kündigungen gegen die mutmaßlich Beteiligten in Kampen. Arbeitsrechtlich mögen das Arbeitsgerichte beurteilen, aber was sagen Sie, Herr Heubner: Ist es korrekt und nur konsequent, mit dem gesamten Umfeld abzustrafen bis hin zum Arbeitgeber und Jobverlust?
Christoph Heubner:
„Ja, das denke ich, das ist es. Denn wir wissen doch: Früher war das Motto der Rechtsextremen immer: Am Arbeitsplatz hältst du deine Fresse, da sagst du nichts, da bist du angreifbar. Heute ist das Motto bei den Rechtsextremen: Gerade am Arbeitsplatz machst du die Fresse auf, da agitierst du. Und jeder Arbeitgeber, der sich selbst ernstnimmt, ist aufgefordert, in diese Auseinandersetzung mit reinzugehen, weil er weiß: Unternehmen können keinen Gewinn erwirtschaften, wenn Deutschland von Rechtsextremen dominiert und kaputtgerissen wird. Wir haben auch früher schon als Internationales Auschwitz Komitee mehrfach die Wirtschaft aufgefordert, sich zu äußern in dieser Auseinandersetzung. Und daher kann man auch jetzt an diesem Punkt nur sagen: Da sollen die Arbeitgeber Konsequenzen ziehen – immer unter der Voraussetzung, dass jemand sich natürlich gegen diese Kündigung wehren kann. Das ist ein gutes Recht. Und dann werden Arbeitsgerichte darüber entscheiden und man kann nur hoffen, dass Arbeitsgerichte und die Juristerei in Deutschland, das Gerichtswesen insgesamt, eine veränderte gesellschaftliche Situation zur Kenntnis nehmen. Ich finde: An diesem Punkt braucht es auch klares Verhalten der sozialen Umwelt, die deutlich sagt: bis hierhin und nicht weiter! So wie diese Influencerin aus Hamburg, die diejenige junge Dame gekündigt hat, die sich ganz vorne in diesem Sylt-Video einen abquatscht. Die hat ihre Mitarbeiterin rausgeschmissen und das begründet mit ihrem eigenen migrantischen Hintergrund. Und dass sie als werdende Mutter ihr Kind nicht in einer solchen Welt aufziehen will. Das fand ich glaubhaft, das fand ich authentisch, das fand ich reflektiert und das fand ich richtig. Und wenn die junge Dame sich jetzt dagegen wehren will und das Arbeitsgericht in Hamburg sagt: `Naja, das reicht für eine Kündigung leider nicht aus.´, dann sage ich: `Naja, liebe deutsche Gesellschaft, dann wollen wir mal abwarten, wohin das führt.´“
Sie haben vorhin diesen heilsamen Schock angesprochen, den der bundesweite Aufschrei bei den Beteiligten im Idealfall vielleicht ausgelöst hat. Falls es hier tatsächlich nicht um eine gefestigte rechtsextreme Einstellung gehen sollte, dann besteht womöglich noch Hoffnung. Das erinnert mich an das, was Sie mit den Rappern Kollegah & Farid Bang gemacht haben, als es den Skandal um deren antisemitische Texte gab. Sie haben das Duo durch die Gedenkstätte in Auschwitz geführt. Das gab einen Lerneffekt. Halten Sie das auch bei der Klientel aus Kampen für denkbar?
Christoph Heubner:
„Ich denke, diese jungen Menschen haben doch Gymnasium besucht oder sind auf guten Schulen gewesen. Lehrer werden mit ihnen auch diesen Teil der Geschichte besprochen haben. Diejenigen, die aus Hamburg kommen, sind vielleicht in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme gewesen oder haben andere Gedenkstätten besucht. Die haben die Möglichkeiten gehabt. Für mich ist ein Besuch einer Gedenkstätte kein pädagogisches Allheilmittel. Es ist ein Nachdenken über sich selbst. Und ich würde mir wünschen, dass diese Menschen dazu in der Lage sind. Und es korrespondiert hier ein bisschen mit dem, was wir alles aus der Reichtumsforschung wissen: Nämlich dass Menschen, die aus sehr privilegierten Verhältnissen kommen, mit dem Bewusstsein einer gemeinsamen Schicht aufwachsen. Man trifft sich also untereinander, man trifft sich in den einschlägigen Lokalen, man trägt die einschlägigen Klamotten, man macht die einschlägigen Reisen und vor allen Dingen: Man kann alles und man darf auch alles.“
Und im Zweifel rückt Geld wieder alles gerade …
Christoph Heubner:
„Genau: Und im Zweifel rückt es das Geld wieder gerade. Und die Beziehung von Papa zu den entsprechenden Anwaltskanzleien. Ich würde gerne an diesem Punkt eines Besseren belehrt werden: durch Öffentlichkeit und Transparenz. Aber diese jungen Leute haben sofort danach alle ihre Online-Profile und sozialen Kontakte abgeschaltet. Die waren ja in einem Nichts verschwunden. In einem Loch. Die gab es gar nicht mehr. Wenn die jetzt ganz gezielt wieder erscheinen in den Netzwerken und sich äußern, und auch einfach mal klarmachen, wie sie sich miteinander äußern, das wäre was. Ich möchte die Telefonate gerne mal hören, wenn die abends telefonieren miteinander.“
Manche Stimmen meinen, es werde eine Hetzjagd auf die Beteiligten aus Kampen unternommen.
Christoph Heubner:
„Da werde ich wütend! Die Auschwitz-Überlebenden erleben das, was passiert ist, als Hetzjagd! Was heißt denn das Gejohle `Deutschland den Deutschen! Ausländer raus!´? Die Holocaust-Überlebenden empfinden das als Hetzjagd. Denn hier droht man ihnen und ihren Nachkommen. Und zwar mit der wiederholten Vernichtung! Es muss nicht gleich `Juden ins Gas!´ heißen. Pläne für `Remigration´ und solche Gesänge wie in Kampen meinen den Weg dorthin. Und es ist zynisch, das herunterzuspielen und beschwichtigen zu wollen! Die Überlebenden empfinden das als Hetze. Punkt. Und ob die Gesellschaft das so mitempfinden kann, das ist keine Frage der sozialen Verträglichkeit, sondern: ihr Empfinden, das der Holocaust-Überlebenden, das ist ernst zu nehmen!“
Was viele auch so anfasst, ist: Niemand der Umstehenden, der Mitfeiernden hat angewidert oder wenigstens fragend und ungläubig geguckt. Es hat keiner denen das Handy abgenommen und gerufen: Haltet euer Maul! Es ist einfach nichts passiert. Es gab keine Reaktion dort vor Ort. War das vielleicht ein Ohnmachtsgefühl? Kennen Sie solche Eingeständnisse vielleicht auch von den Auszubildenden und Führungskräften, die Sie in Auschwitz begleiten? Man wollte vielleicht gegen Situationen angehen, hat es aber nicht – und hinterher ärgert man sich. Kann man eine solche Zivilcourage lernen, damit es klappt mit einer Reaktion, wenn solche Entgleisungen auftauchen?
Christoph Heubner:
„Vor einer solchen Ohnmacht ist niemand sicher. Und an dem Punkt soll man auch sich selbst gegenüber ehrlich sein. Niemand ist sicher, sofort Courage zeigen zu können – auch ich war das als junger Mensch nicht. Aber weil wir immer mehr Beispiele zum Lernen haben, wissen wir: Es reicht oft ein kurzer Blick und ein Zuruf: `Hey, hört mal auf mit der Scheiße!´ Oder man geht zu dem Discobetreiber hin und sagt: Nehmt das Lied mal von der Playlist, das lädt ja mittlerweile geradezu ein zu diesen Provokationen. Aber auf jeden Fall etwas zu machen, dass das nicht anhält. Wenn wir zusammen in Auschwitz in der Gedenkstätte sind, ist das immer einer der ganz wichtigen Punkte für die VW-Azubis, für die Manager und Meister: der Punkt der Gleichgültigkeit, die damals herrschte. Auch die Überlebenden fühlen sich noch immer eisig kalt angesichts der Gleichgültigkeit der vielen. Von den Tätern haben sie sich nichts erwartet. Aber die Gleichgültigkeit der Nachbarn, die gesehen haben, wie sie über die Straße weggeführt werden. Oder die Nachbarn, die sie schon Monate vorher nicht mehr gegrüßt haben und die Straßenseite gewechselt haben – das ist der Punkt! Und das ist auch ein Aufruf gegen die Gleichgültigkeit dieser Tage. Und die Gleichgültigkeit heißt doch auch, dass ich mir klarmache als Mensch: Wenn solche Sprüche kommen, wen betrifft das denn? Wen beleidigt das denn? Wem tut das weh? Jenseits von guten Geschmack und guten Sitten. Es wird Zeit, dass wir begreifen, wie gefährdet wir sind.“
Die „Mitte-Studie“ über rechtsextreme und demokratiegefährdende Einstellungen in Deutschland hält Folgendes fest: Der Aussage „Wenn sich andere bei uns breitmachen, muss man ihnen unter Anwendung von Gewalt zeigen, wer Herr im Hause ist.“ stimmen 17 Prozent zu, weitere rund 20 Prozent „teils/teils“. Da können wir also fast noch froh sein, wenn nur gesungen wird, oder?
Christoph Heubner:
„Ja, das ist gesellschaftlicher Primitivismus. Und diese Aussage kennen wir doch noch von früher aus dem Haushalt: Wenn die Frau Widerworte hat, dann durfte der Mann auch schon mal ausholen. Und wenn wir davon heute ableiten, dass wir alle in einem großen Haus leben mit vielen Zimmern, und jemand dann einseitig entscheidet, dass einige Bewohner da aber nicht reingehören sollen und sie mit Gewalt vertreibt – wo führt uns das dann hin? Und dieses Umfrageergebnis bringt mich wieder zu dem Punkt: Wie sehr haben sich die Grenzen in der Gesellschaft eigentlich schon verschoben? Solche altbackenen Gewaltfantasien werden wieder als gesamtgesellschaftliches Konzept der `Remigration´ hervorgeholt und wir würden damit wieder in einer Gesellschaft leben, die vom Recht des Stärkeren bestimmt ist. Wir sollten uns also fragen, was gerade in der Mitte der Zivilgesellschaft eigentlich noch die Mehrheit ist.“
Die Forschung zeigt dazu auch: Privilegierte, wie sie da auf Sylt gefeiert haben dürften, nehmen sich gerne raus, zu sagen, dass ihnen mehr zustehe als anderen. Quasi wie eine Art Naturgesetz. Aber andererseits kümmern sich gerade auch Privilegierte, die bessere Startvoraussetzungen hatten und die finanziell deutlich besser gestellt sind als andere, um die Zivilgesellschaft. Und zwar nicht nur bei hippen Spendengalas und mit Stiftungen, die ihre Steuern drücken. Sondern mit dem ehrlichen Ansatz, der Gesellschaft wirklich etwas zurückzugeben. Besteht also noch Hoffnung, dass wir hier die hässliche Fratze von Sylt gesehen haben, aber nicht die mehrheitlich repräsentative?
Christoph Heubner:
„Elite verpflichtet. Und ja, ich habe noch Hoffnung. Denn was trägt einen? Für die einen ist es Religiosität und der christliche Glauben, die etwas in Bewegung bringen. Für andere ist es einfach nur Mitmenschlichkeit. Das Gefühl, was vielen Leuten abhandengekommen ist, ist das, was man früher in Deutschland Herzensbildung genannt hat. Und ich meine: Wenn heute Leute mit glasigen Augen immer noch Antoine de Saint-Exupéry zitieren: `Man sieht nur mit dem Herzen gut´, dann ist das immer noch ein wahrer Satz.“
Wie kann man in der Arbeitswelt auf all das reagieren, auch ganz konkret bei Volkswagen?
Christoph Heubner:
„Ich will jetzt keine Volkswagen-Lobeshymne anstimmen. Aber die Konsequenz, mit der man hier in diesem Konzern Bildungsarbeit betreibt und diese Bildungsarbeit als bereichernd empfindet und nicht als einen zusätzlichen Luxus, den man sich leistet, das überzeugt. Man ist so konsequent, dass das, was man anbietet, auch als Gabe in den Betrieb zurückfließt. Und ich wünsche mir, dass diese Art von Haltung Schule macht und ganz deutlich wird. Denn das ist überall eine klare gesellschaftliche Auseinandersetzung. Und die gehört auch in den Betrieb. Man hat kein Recht darauf, ein Anti-Demokrat zu sein. Ja, das kann man wählen. Aber dann muss man nicht gleichzeitig bei einem Arbeitgeber arbeiten, bei dem über 100 verschiedenen Nationen sind. Ich wünsche mir, dass Volkswagen so weitermacht. Und weiter vermittelt, wofür dieser Konzern steht. Diese Auseinandersetzung brauchen wir. Und Volkswagen hat da wirklich eine Vorreiterrolle in der Gesellschaft.“