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28.08.2024

IAK fordert Ehrlichkeit in Festschrift: Kritik an Auslassung der Verfolgung jüdischer Bürger bei 1000-Jahr-Feier in Netra

 
 
Der Friedhof der jüdischen Gemeinde Netra wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts nordwestlich der Straße Netra - Grandenborn angelegt. Der älteste Grabstein datiert aus dem Jahr 1855, die jüngste Belegung aus dem Jahr 1938. Hier, so der Vorschlag des Festausschusses, könne man eine Gedenktafel errichten. Foto: Heinz K. S., CC BY-SA 4.0 <https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0>, via Wikimedia Commons

Der Friedhof der jüdischen Gemeinde Netra wurde in der Mitte des 19. Jahrhunderts nordwestlich der Straße Netra - Grandenborn angelegt. Der älteste Grabstein datiert aus dem Jahr 1855, die jüngste Belegung aus dem Jahr 1938. Hier, so der Vorschlag des Festausschusses, könne man eine Gedenktafel errichten. Foto: Heinz K. S., CC BY-SA 4.0 , via Wikimedia Commons

 

 

 

Im Jahr 2025 feiert die hessische Gemeinde Netra ihr 1000-jähriges Bestehen. Zu diesem Anlass soll auch eine Festschrift entstehen, für die auch der emeritierte Dekan Dr. Arnold gewonnen wurde, um über das Schicksal der verfolgten Juden der Gemeinde Netra und die dörfliche Situation in den Nazi-Jahren zu berichten. Diesen Beitrag hat nun der Festausschuss der Gemeinde zur Veröffentlichung abgelehnt, weil in ihm Klarnamen der damals beteiligten Netraer Bürger zu finden sind.

Weil dieser ausgrenzende Umgang mit der eigenen Geschichte in Deutschland überwunden schien und deshalb der aktuelle Vorgang umso erschreckender ist, wendet sich der Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees mit unten stehendem offenen Brief an die Verantwortlichen der Gemeinde, um ihre Haltung zu überdenken. Er tut dies auch deshalb, weil er seiner hessischen Heimat und den aus ihr vertriebenen jüdischen Menschen besonders verbunden ist und nicht allzuweit entfernt von Netra geboren wurde und in der Nähe des Dorfes als Kind viele Ferien verbracht hat: Eine Landschaft und Menschen, mit denen ihn ebenfalls viele Erinnerungen verbinden.

OFFENER BRIEF:

Sehr geehrter Herr Ortsvorsteher, liebe Bürgerinnen und Bürger von Netra, lieber Festausschuss!

Zeitungsberichten entnehme ich, dass vor Ihnen im Jahr 2025 ein großes und wichtiges Fest steht, das 1000-jährige Jubiläum Ihres schönen Ortes im östlichen Hessenland. Zu diesem Anlass haben Sie sich für eine Festschrift entschieden, die die Geschichte Ihres Dorfes erzählt und den Blick auf die Menschen lenkt, die Netra geprägt und gestaltet haben und in ihm zuhause gewesen sind. Dankenswerterweise haben einige von Ihnen auch an die jüdischen Netraer gedacht, die bis zu den Nazi-Jahren mit Ihnen gelebt und zu Ihnen und zu Netra gehörten. Sie haben in diesem Zusammenhang Dr. Martin Arnold gefunden, den emeritierten Dekan des Kirchenkreises Eschwege,  der die Geschichte der Juden von Netra und deren Leben zu Zeiten der Ausgrenzung, Verfolgung bis hin zu ihrer Verjagung aus ihrem Heimatdorf, ihrer Deportation und Ermordung nachverfolgt und wahrheitsgemäß aufgeschrieben hat.

In seinem Bericht allerdings nennt Dr. Arnold Ross und Reiter, nennt Namen von damaligen Bewohnern des Dorfes, die sich als fanatische Nationalsozialisten bei der Verfolgung der jüdischen Menschen besonders hervorgetan haben und dabei im Dorf auf keinen nennenswerten Widerstand gestoßen sind: Die meisten Netraer waren einverstanden oder sie waren gleichgültig - wie damals in so vielen anderen Orten in Deutschland auch. Und dies ist Ihnen nun zuviel an Wahrheit, so genau wollen Sie es denn doch nicht wissen.

Und deshalb, lieber Festausschuss, wollen Sie den Bericht nicht in Ihrer Festschrift abdrucken, weil noch heute Nachfahren der im Bericht mit Namen genannten Nazis in Netra leben. Unfriede würde ins Dorf getragen. Wobei allerdings der Autor des Berichtes betont, dass heutige Namensträger nicht verantwortlich sind, für das, was damals ihre Familienmitglieder angerichtet haben. Und das ist richtig! Richtig ist aber auch, dass Sie alle heute dafür Verantwortung tragen, dass Sie Sich in Ihrer Festschrift ehrlich machen und auch die dunklen Teile der Ortsgeschichte benennen und dabei berücksichtigen, dass diejenigen, die die jüdischen Menschen drangsaliert und ausgestoßen haben, nicht vom Mars entsandt, sondern ihre eigenen namentlich bekannten Nachbarn waren, denen sie viele Jahre vertraut hatten.

Die Zeit der Festschriften in Deutschland, in denen die Jahre 1933-1945 verschwiegen und ausgespart werden, ist vorbei. Vor allem aber dürfen Sie Ihre jüdischen Mitbürger nicht erneut hinauswerfen - aus Ihrer Festschrift und aus Ihrem Gedächtnis. Gerade in dieser Zeit und in diesen Tagen. Also, fassen Sie Mut und springen Sie über Ihren Schatten! Nur dann wird es ein schönes Fest! Noch ist es Zeit!

Mit freundlichen Grüßen und guten Wünschen

Christoph Heubner

Exekutiv Vizepräsident
Internationales Auschwitz Komitee