Interview mit Christoph Heubner in der Zeitschrift "kontinente. Eine Welt. Ein Magazin"
„Wo war der Mensch?“
Am 27. Januar jährt sich die Befreiung von Auschwitz zum 70. Mal. Christoph Heubner, Geschäftsführender Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees (IAK), bezeichnet den Ort als „Zentrum des Weltgewissens“ und erklärt, warum Erinnerungsarbeit wichtig bleibt.
Herr Heubner, in absehbarer Zeit wird es keine Überlebenden mehr geben, die persönlich von Auschwitz erzählen können. Wird es dann in Vergessenheit geraten?
Heubner: Erinnern hat sehr viel mit Glauben zu tun. Von den Figuren in der Bibel lebt auch keiner mehr und dennoch ist das für Menschen eine sehr wichtige und zentrale Botschaft. Es bleibt auch zentral, was in Auschwitz geschehen ist. Es ist unsere Aufgabe, die Geschichten, die wir von Überlebenden gehört haben und noch hören, weiter zu erzählen. Als ich Anfang der 70er Jahre zum ersten Mal in Auschwitz war, habe ich sehr stark gespürt, welche Herausforderung sich mir dort stellt, ganz privat, aber auch politisch, pädagogisch, religiös. Das war ein umfassendes Gefühl. Herausforderung ist immer dann umso intensiver, wenn sie mit Menschen verbunden ist, nicht nur mit einer Sache oder einem Ort. Die Begegnung mit einem sehr speziellen Menschen, dem polnischen Katholiken Tadeusz Schimanski, der als Pfadfinder verhaftet worden war, prägte mich. Er hat es gut verstanden, die Herausforderung persönlich werden zu lassen, indem er deutlich machte: Ich erwarte jetzt was von Dir. Hilf mit, dass dieser Ort und die Menschen, die hier gelebt und gelitten haben, nicht in Vergessenheit geraten.
Heute sind Sie Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees (IAK) und setzen sich hauptberuflich für das Gedenken ein. Wie kam es dazu?
Heubner: Da hat die Aktion Sühnezeichen Friedensdienste eine ganz wichtige Rolle gespielt. Ich habe dort Zivildienst gemacht und bin am Thema dran geblieben, weil es Menschen gab, die mich da sehr herausgefordert haben. Volker von Törne zum Beispiel, ein Dichter, der aus einem SS-Haushalt stammte und seine ganz persönliche andere Lebensgeschichte geschrieben hat. Er ist sehr früh gestorben, seinen Job habe ich weitergemacht. Nach dem Studium habe ich bei Aktion Sühnezeichen gearbeitet. Von dort bin ich dann zum IAK gekommen. Insgesamt spielte auch die Erziehung und Prägung durch meinen Vater eine große Rolle. Er gehörte zu der Kriegsgeneration und hat alle seine Söhne als Kriegsdienstverweigerer erzogen. Da war eine große Offenheit und Ehrlichkeit der Geschichte gegenüber.
Mit der Jugendbegegnungsstätte (JBS) in Auschwitz nehmen Sie besonders junge Menschen in den Blick, warum?
Heubner: Viele der inhaftierten jüdischen Menschen damals waren so alt wie die Jugendlichen heute. Und diese haben mit größerem zeitlichen Abstand eine sehr große Offenheit gegenüber dem, was passiert ist. Ich erlebe immer wieder, wie sie ganz schnell begreifen, dass sie in Auschwitz an einem ganz zentralen Ort menschlicher Empfindungen sind. Wir sprechen sie dort in ihren Rollen an: als Geschwister, Söhne, Töchter, Enkel. All das waren die so genannten Opfer auch. Das Wort Opfer stigmatisiert und entfremdet in einer gewissen Weise. Wir zeigen: Das war ein Vater, ein Bruder, ein Enkel, der hier gelebt und gelitten hat. In der Begegnung mit Überlebenden entwickeln coole Jugendliche oft eine unglaubliche Zartheit. Sie merken genau, wenn die Älteren körperliche Nähe brauchen. Sie stützen sie, halten sie fest, haken sie unter, zeigen: Du bist jetzt nicht allein. Das ist sehr beeindruckend.
Was bedeutet die Arbeit mit Jugendlichen für die Überlebenden?
Heubner: Es ist ihr Lebenselixier. Zofia Posmysz, eine polnische Journalistin und Schriftstellerin, sagt, die Begegnung mit jungen Menschen, die sich konfrontieren wollen, bestärke ihren Willen, noch ein bisschen auf dieser Erde zu bleiben. Viele Überlebende sind nicht mit ihren Kindern nach Auschwitz gegangen, weil sie das als eine Bloßstellung ihrer Ohnmacht empfunden hätten. Aber sie kommen sehr häufig mit ihren Enkelkindern.
Nicht alle Jugendliche haben Respekt vor Orten, an denen Unrecht geschehen ist. Ich denke an die „Selfies“ aus Auschwitz. Was läuft da schief?
Heubner: Da bin ich noch am Nachdenken. Zu den Selfies habe ich mich auch geäußert, das ist schon ärgerlich. Ich denke, es ist ein Zeichen der Unsicherheit. Ein Zeichen, eine Situation in den Griff bekommen zu wollen durch Rituale. Man muss Jugendlichen erklären, wo man ist. Sie verhalten sich so, weil ihnen niemand erklärt hat, wo sie sind. Und zum Erwachsenenwerden gehört eben auch die Unterscheidungsfähigkeit, dass ich weiß, wo ich bin und lerne, wer ich bin. Von Menschen, die Jugendliche erziehen, muss man sehr viel mehr erwarten noch. Auch an poetischer Kraft.
Welche Rolle spielen die Überlebenden für Deutschland?
Heubner: Sie haben eine große menschliche Leistung erbracht. Ohne ihr Zugehen auf unser Land hätte Deutschland keine offene Tür zurück in die Weltgemeinschaft gefunden. Die Überlebenden haben große Hochachtung vor der Zivilgesellschaft in Deutschland, vor den vielen Gruppen, die sich engagieren, die sich zum Beispiel um Synagogen kümmern. Aber sie leiden angesichts der fehlenden juristischen Aufarbeitung. Ihre Peiniger sind überwiegend straffrei geblieben. Das ist ein fortwährender Skandal.
Als Schriftsteller rekonstruieren Sie Lebensgeschichten von Verfolgten. Welche Bedeutung hat die künstlerische Auseinandersetzung mit dem Thema?
Heubner: Eine sehr große. Wenn die Überlebenden die Tür zum Leben zumachen, dann muss an die Stelle etwas Neues in den Raum treten und das ist die künstlerische Auseinandersetzung. Es gibt noch so viele Geschichten aus Auschwitz, die man erzählen muss. Keine heroischen, sondern Geschichten von Mitmenschen. Das Fiktive ist dann notwendige Ergänzung des Realen.
Kann künstlerische Auseinandersetzung den Menschen so emotional anrühren, dass er ähnliche Erfahrungen macht wie im Gespräch mit Überlebenden?
Heubner: Genau das meine ich. Der Weg muss durchs Herz in den Kopf gehen. Wenn man im Herz stecken bleibt und nur gefühlig wird, reicht es nicht. Es ist auch eine intellektuelle Herausforderung. Aber intellektuelle Herausforderung ohne Empathie ist auch halbherzig. Kunst kann beides verbinden.
Welche Art von Gedenkkultur ist sinnvoll?
Heubner: Gedenkkultur, die wirklich Gedenkkultur ist. Die etwas mit den Gefühlen der Menschen zu tun hat, mit ihrem Verstand und ihrem Herzen. Ich bin skeptisch, wenn Menschen sich aufregen über so genannte Gedenkrituale. Rituale sind für jede Gesellschaft, für die Kirche, für alle Religionen wichtiger Bestandteil ihres Lebens. In unserem Land gibt es eine sehr gute Gedenkkultur, an der viele, viele Menschen ganz unterschiedlicher Meinungen beteiligt sind.
Ist Gedenkkultur zum einen die ritualisierte, an bestimmten Tagen festgemachte und zum anderen die kontinuierliche, die wichtig ist etwa für die pädagogische Arbeit?
Heubner: Natürlich, beides hat seinen Platz. In Emden zum Beispiel hat man in Erinnerung an einen katholischen Priester, der im Konzentrationslager Apfelbäume gepflanzt hat, ebenfalls einen Apfelbaum gepflanzt. In dieser Weise an einen widerständigen aufrechten Menschen zu erinnern, der in Dachau und auch in Sachsenhausen war, wie sein protestantisches Gegenpart aus dem Hunsrück, Paul Schneider, finde ich eine rührende Geschichte. Ist das nun ein Ritual? Nein, es ist Kultur.
Hat sich die Erinnerungskultur verändert?
Heubner: Es wird mir manchmal zu sanft. Die Gespräche mit Überlebenden sind nicht nett, es geht darin um Unaussprechliches. Wir reden über den Mord an Kindern, das ist im biblischen Sinne eines der ungeheuerlichsten Dinge. Es ist 70 Jahre her, dass ein Kulturvolk Menschen ins Feuer geworfen hat. Jede Begegnung mit einem Überlebenden, jede Begegnung mit dieser Geschichte ist nur dann sinnvoll, wenn man sich auch verstören lässt dadurch. Auschwitz hinterlässt einen immer mit viel mehr Fragen als Antworten. Und das soll so bleiben.
Deutschland ist mit der Aufarbeitung der Geschichte schon recht weit. Andernorts beginnt man gerade erst damit. Sind Sie als Experte für Gedenkkultur gefragt?
Heubner: Ja, es gab Nachfragen aus Ruanda. Und auch aus Japan, wo es keine Aufarbeitung der Geschichte aus dem Zweiten Weltkrieg gegeben hat. Ich versuche, Menschen die Angst vor der Erinnerung zu nehmen, deutlich zu machen, dass es nicht die eigene Würde beschmutzt, wenn man sich mit der Geschichte auseinandersetzt, im Gegenteil: dass es die eigene Würde stärkt, wenn man Verstörung, Schmerz und Irritation zulässt.
Wie kann man einen Ort des Schreckens in einen Gedenkort verwandeln?
Heubner: Indem man den Gedenkort nicht eingrenzt. Auschwitz ist eben nicht nur Auschwitz auf polnischem Boden, sondern auch überall dort, wo die Ausgrenzung von Menschen und die Deportation der jüdischen Bewohner stattgefunden hat. Auschwitz beginnt nicht mit Taten, sondern mit den Ankündigungen der Taten. Wo wir heute Ausgrenzung haben, Intoleranz, Rassenhass, Antisemitismus, fundamentalistische Hasstiraden, da beginnt das Nachdenken: Wo könnte das Ende sein?
Auschwitz ist für viele Atheisten das stärkste Argument gegen die Existenz Gottes. Hat es auch ihr Gottesbild ins Wankengebracht?
Heubner: Nein, überhaupt nicht. Die entscheidende Frage ist doch nicht, wo war Gott? Was ist das denn für eine Anmaßung? Die Schweinerei, hat Gott die gemacht? Die hat der Mensch gemacht. Deswegen ist es so entsetzlich. Die Frage ist: Wo war der Mensch? Es hat unendlich viele gegeben, die gleichgültig daneben gestanden und sich weggeduckt haben.
Beim Blick auf die vielen Kriege und Krisen drängt sich die Frage auf: Hat die Welt aus Auschwitz nichts gelernt?
Heubner: Die Welt könnte einen verzweifeln lassen, aber Verzweiflung ist keine Option. Ich habe die Hoffnung, dass der Mensch lernfähig ist, es gibt dafür viele Beispiele. Mit der Erinnerungsarbeit leisten wir einen kleinen Beitrag zur Gesamtveränderung.
Info zur Person
Der am 6. Mai 1949 als Pfarrerssohn geborene Heubner leistete nach dem Abitur einen Friedensdienst. Angeregt durch den Auschwitz-Überlebenden Tadeusz Szymanski beschäftigte er sich mit Lagerkunst. Er wirkte entscheidend bei Aufbau der Jugendbegegnungsstätte Auschwitz mit und kann auf langjährige pädagogische Arbeit mit Auszubildenden der Volkswagen AG in Auschwitz zurückblicken. Heubner ist Geschäftsführender Vizepräsident des Internationalen Auschwitz Komitees (www.auschwitz.info), das 2003 ein Koordinationsbüro in Berlin eröffnete.
Dank an die Redaktion von "kontinente". Sie finden das Interview auch auf der Website von "kontinente":
http://www.kontinente.org/de/interview_mit_christoph_heubner_vom_auschwitz-komitee.html