Buchvorstellung: "Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen"
Gerhard Steidl: "Ich wollte dieses Buch verlegen, weil die Texte wichtig sind."
Am 12. Dezember war die Vertretung des Landes Niedersachsen beim Bund in Berlin-Mitte gut besucht: Der Steidl Verlag, die Landesvertretung und das Internationale Auschwitz-Komitee stellten das neue Buch von Christoph Heubner „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“ vor. Der Autor und Exekutiv-Vizepräsident des IAK führt in seinem neuen Werk Erinnerungen und Berichte zusammen, die ihm Überlebende der Lager über viele Jahrzehnte hinweg erzählt haben. „Du musst alles aufschreiben“, hatten ihn die Überlebenden gedrängt. Zwei Geschichten und eine Tagebucherzählung sind entstanden.
Der Verleger Gerhard Steidl und Raphaël Esrail, Auschwitz-Überlebender aus Paris und französischer Vizepräsident des IAK, begrüßten die Gäste.
Im Anschluss an die beiden Grußworte las zunächst Heide Simon aus dem Buch, dann wandte sich Christoph Heubner an das Publikum. Entstanden seien nicht nur „Lagergeschichten“, sagte er, sondern Geschichten über das Leben davor und das Alleinsein danach: "Geschichten über den Hass und die Liebe und Geschichten über das Leid, das niemals aufhört und die Hoffnung, die niemals endet."
- Das Buch "Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen" ist im Steidl Verlag erschienen (104 Seiten, fester Einband / Leineneinband, ISBN 978-3-95829-717-3). Es kostet 14,80 Euro.
- Zum Buch ist in der Reihe Steidl Wörtlich ein Podcast mit einem Interview mit Christoph Heubner erschienen. Der Podcast ist unter anderem auf podcast.de kostenlos zu hören. Mehr zum Podcast finden Sie auf steidl.de.
Dokumentation: Die Rede Gerhard Steidls im Wortlaut
Wir finden uns in einer Zeit wieder, in der Antisemitismus und Fremdenhass an der Tagesordnung sind
Guten Abend, meine Damen und Herren, ich begrüße Sie herzlich zur Premiere von Christoph Heubners Buch „Ich sehe Hunde, die an der Leine reißen“.
Sie kennen Christoph Heubner als Exekutiv-Vizepräsident des Internationalen Auschwitz-Komitees, als unermüdlichen Streiter wider das Vergessen. Ich kenne ihn seit vielen Jahren, und ich kenne ihn auch als Schriftsteller. Als er mir von der Idee zu diesem Buch erzählte, wusste ich sofort, dass ich es verlegen will. Nicht nur, weil seine letzte literarische Veröffentlichung bei uns dreißig Jahre her ist, und ich seine Stimme als Autor vermisste.
Ich wollte dieses Buch verlegen, weil die Texte wichtig sind. Wichtiger denn je, denn wir finden uns in einer Zeit wieder, in der die Vergangenheit um- oder gar weggedeutet werden soll. Wo Antisemitismus und Fremdenhass an der Tagesordnung sind. Dieses schmale, aber gewichtige Buch liegt mir am Herzen.
Wenn man sagt, etwas darf nicht vergessen werden, dann muss man zuallererst Wissen, Kenntnis davon erwerben. Als ich etwa zwanzig Jahre alt war, hatte ich schon vieles über Auschwitz gelesen. Ich konnte mir trotzdem kein richtiges Bild machen, und so beschloss ich, in den Sommerferien nach Polen zu reisen und die Konzentrationslager Stutthof und Auschwitz zu besuchen. Wer jemals dort gewesen ist und kein Herz aus Stein hat, weiß, was diese Besuche in einem Menschen auslösen. Die Shoah war nicht zu begreifen, aber in den Archiven, wo ich in den Büchern und Protokollen der Kriegsverbrecherprozesse las, habe ich verstanden, das, was nicht in Vergessenheit geraten darf, aufgeschrieben, weitererzählt werden muss.
In Büchern Gelesenes bleibt haften, weiß man heute. Mir hat sich eingebrannt, wie der Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz mit seiner Familie am Frühstückstisch sitzt. Ein liebevoller Vater und Ehemann, der noch eben den Hund ausführt, bevor er durch das Gartentor zur Arbeit geht und Tausende Menschen ermordet.
Mir haben sich aber auch die Bücher von Primo Levi oder Imre Kertesz eingebrannt. Menschen haben Auschwitz und andere Vernichtungslager überlebt. Viele konnten ihre Erlebnisse nicht aufschreiben, haben sie nur selten jemandem anvertraut. Aber auch ihre Stimmen müssen wir hören und lesen, ihre Geschichten immer weitererzählen.
Das tut Christoph Heubner in seinem Buch, das tun, so lange es das Alter und die Gesundheit erlaubt, zum Glück, die Überlebenden selbst.
Wie Raphael Esrail, den ich herzlich begrüße und dem ich mit Freude jetzt das Mikrofon überreiche.